Alkoholprävention 1905

Eine Arbeitsbeschreibung der Polizei Harburg zum Kampf gegen den Alkohol aus dem Jahre 1905. Geschrieben in dieser Zeit von Herrn Polizei-Inspektor von Sillig,

Gefunden wurde dies in den Mäßigkeit-Blätter der Ausgabe 6 vom Juni 1906 im Stadt- und Kreisarchiv Nienburg (Weser)

Erfahrungsgemäß werden die meisten Roheits-Delikte im Zustand der Trunkenheit verübt. Von dieser Erkenntnis ausgehend hat sich auf Anregung des hiesigen Lokal-Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke die Polizei-Direktion seit November 1905 den Kampf gegen die Trinker und Trunkenbolde zur Aufgabe gemacht.

Es gab auf diesem Gebiet bereits eine Vorkämpferin, die Polizeiverwaltung Herford i. W., so dass wir uns deren Erfahrungen zu nutze machen, auch entsprechende Verbesserungen eintreten lassen konnten.

Vor Eintritt in den Kampf sagten wir uns, dass wir zunächst uns damit begnügen müssen, bei neuen Fällen von Trunkenheit bessere Hand anzulegen und erst später auf bereits bekannte Trunkenbolde zurückzugreifen, da wir sonst andere Arbeiten hätten liegen lassen müssen.

Bekanntlich haben Kommunal-Polizei-Verwaltungen nur eben so viele Beamte, dass sie notdürftig die ihnen geltenden Aufgaben erfüllen können, die namentlich in einer Hafen- und Fabrikstadt wie Harburg – in unmittelbarer Nähe Hamburgs – nicht gering sind.

Wenn wir auch nicht mit so großen Zahlen aufwarten können wie Herford, so können wir doch mit den, bis jetzt erreichten Erfolgen zufrieden sein. Auch wir haben erreicht, dass bald, nachdem das von der Polizei eingeschlagene Verfahren sich herumgesprochen hatte, eine bedeutende Abnahme der Zahl der wegen Trunkenheit in das Polizei-Gewahrsam eingelieferte Individuen und der Zahl der in der Trunkenheit begangenen Straftaten festzustellen war. Erfreulicherweise hat diese Abnahme bis heute angehalten. Während früher wöchentlich etwa bis zu 20 Festnahmen erfolgten, sind es jetzt höchsten 5.

Das eingeschlagene Verfahren ist kurz folgendes: Sobald die Polizei auf irgend eine Weise Kenntnis von dem Vorhandensein eines notorischen Trinkers erhält, erfolgt seine Vorladung und eingehende Vernehmung zu Protokoll (siehe Anlage 1), um feststellen zu können, ob der Trinker erblich belastet ist und ob bereits Angehörige infolge von Trunksucht verstorben sind. Sodann erfolgt, falls der Trinker verheiratet ist, eine Gegenüberstellung von Mann und Frau.

Bei Vorhandensein der Schuld auf Seiten des Mannes ist tunlichst die regelmäßige Abgabe des Arbeitsverdienstes an die Frau herbeizuführen. Bei dieser Vernehmung hängt es wesentlich von der Geschicklichkeit des Kommissars ab, ob es ihm gelingt, das Ehrgefühl der Leute, sollte es auch noch so abgestumpft sein, zu wecken, indem er ihnen in humaner Weise die ungeheuer schädlichen Wirkungen des Alkohols vor Augen führt. Zur mündlichen Verwarnung tritt noch hinzu, dass zur Bekräftigung derselben dem Mann die Schrift von Regierungsrat Quengle “Der Alkohol und seine Gefahren” (Mäßigkeit-Verlag, Berlin W 15, 20 Pf.) überreicht wird.

Für jeden Trinker wird außerdem eine Registerkarte und ein Fragebogen (Anlage 2) angelegt und jede Woche von dem zuständigen Revierbeamten ausgefüllt. Fällt dieser Bericht ungünstig aus, so tritt eine erneute protokollarische Verwarnung ein.

In der Regel erfolgt die Aufnahme in die Trinkerliste – Säuferliste – nach dreimaliger Verwarnung. Ist die Aufnahme verfügt, so wird die betreffende Person im Wege einer polizeilichen Verfügung eröffnet, das sie als “Trunkenbold” bezeichnet worden ist, und wird ihr das Betreten von Lokalen, welche zum Ausschank für geistige Getränke bestimmt sind, unter Androhung einer Zwangsstrafe für jeden Fall der Zuwiderhandlung untersagt. Gleichzeitig erhalten die Wirte durch Zustellung einer entsprechenden Benachrichtigung Kenntnis von der Aufnahme. Wann von den der Polizei zur Verfügung stehenden weiteren Machtmitteln – Einleitung der Fürsorge-Erziehung der Kinder, Herbeiführung der Bestrafung aus § 361, 5, 7, 8, 10 und schließlich das Entmündigungsverfahren – Gebrauch gemacht werden soll, muss von Fall zu Fall ent-schieden werden.

Um die Wirte zur Mitarbeit an der guten Sache zu veranlassen, ging ihnen folgendes Schreiben zu:

“Da erwiesenermaßen die meisten Exzesse und Roheits-Delikte im Zustande der Trunkenheit und zwar vornehmlich nach übermäßigen Genug von Branntwein begangen werden, so hat die Polizei sich zur Aufgabe gemacht, diesem Übel entgegen zu treten. Hierzu bedürfen wir die Unterstützung der Wirte, resp. deren Stellvertreter. Wir ersuchen daher, in Zukunft Spirituosen nicht mehr zu verabreichen:

  1. a.    solchen Personen, die als Trunkenbolde amtlich bekannt gegeben sind,
  2. b.    Betrunkenen,
  3. c.     auf Borg und endlich
  4. d.    Kindern, da durch diese erfahrungsgemäß der Alkohol zugetragen wird.

Wir hoffen, dass Sie Ihrerseits bereit sein werden, sich an den sowohl für die einzelnen trunkfälligen Individuen als auch für das Allgemeinwohl segensreichen Bestrebungen zu beteiligen und wir auf Ihre Unterstützung rechnen dürfen.”

Da leider weder die Verabreichung geistiger Getränke auf Borg, noch die an Kinder allgemein gesetzlich verboten ist, – über die Rechtsgültigkeit von diese Materie regelnden Lokalpolizeiverordnungen bestehen Zweifel – so ergaben sich anfangs Schwierigkeiten, deren Überwindung nicht so einfach erschien. Die Wirte glaubten sich durch diese Forderung der Polizei in ihrem Gewerbe beeinträchtigt und waren nicht ohne weiteres bereit, ihr nachzukommen. Erst als ihnen in mehreren Fällen unzweifelhaft klar gemacht worden war, dass die Polizei Mittel besitzt, sie gefügig zu machen, gaben si ihren Widerstand auf und kommen jetzt den getroffenen Anordnungen bereitwilligst nach. Selbstverständlich kommt noch ab und zu ein Verstoß vor.

Weitere Schwierigkeiten erwuchsen uns aus der Größe der Stadt, dann aber auch durch die eigenartig zusammengewürfelte, stets strukturierende Bevölkerung. Auch fehlte es leider stark an dem Verständnis für die gute Sache.

Die meisten Fabrikanten und sonstige Arbeitgeber nahmen von vorneherein insofern einen ablehnenden Standpunkt ein, als sie, von offenbar solchen Motivangeleitet, auf eine Anfrage darüber, ob sie in ihren Betrieben zum Trunke neigende Personen beschäftigen, eine ablehnende Antwort gaben. Dagegen gaben sie auf Erkundigungen über von uns als Trinke bezeichnete Personen bereitwillig Auskunft.

Auf verlässliche Mitteilungen der Nachbarn ist in den seltensten Fällen zu rechnen. Die unter denselben Lebensbedingungen Zusammenwohnenden betrachten auch gemeinsam die Polizei als ihren Feind und verraten ihresgleichen nicht.

Eine besondere Kategorie von Arbeitern sind in Großstädten die Gelegenheitsarbeiter und in Hafenstädten außerdem die Hafenarbeiter. Mit beiden ist schwer etwas aufzustellen, da diese keine regelmäßigen festen Bezüge haben, sondern nur stunden- oder tageweise arbeiten und bezahlt erhalten. Die danach folgende (vielfach gewollte) arbeitslose Zeit wird zum Verschlämmen des zu größten Teile schwer verdienten Lohns benützt. Viele nehme sogar nicht früher andere Arbeit an, als bis die Ebbe iher Kasse dazu zwingt. Diesen kommt daher der verhältnismäßig hohe Arbeitslohn zustatten. Im Akkord können z. B. tüchtige Leute in 3-4 Tagen bis zu 40 Mark und mehr verdienen, z. B. beim Entlöschen  eines Dampfers, der schwedische Pflaster-Kopfsteine oder Schwellenholz als Ladung enthält. Sobald man diesen Leuten näher kommt, Abgabe ihres Lohns an die Frau verlangt und sie kontrollieren lasst, dann arbeiten sie eben weniger und begnügen sich mit einem Verdienst, der gerade für ihren Lebensunterhalt hinreicht, Abzüge aber nicht zulässt.

Leider finden solche Leute bei den Gerichten viel zu wenig Unterstützung, insofern als ihren Entschuldigungsgründen zu viel Glauben beigemessen wird, sodass es oft nicht gelingt, sie zur Bestrafung zu bringen. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Reformbedürftigkeit des Armenrechts, die ja auch in der 26. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 17. Febr. 1906 als notwendig anerkannt worden ist.

Wir haben z. B. hier einen Fall zu verzeichnen, dass ein wegen Trunksucht Entmündigter – ein notorischer Trunkenbold – mit Armenschein, auf Aufhebung der Entmündigung geklagt und ein obsiegendes Urteil erstritten hat! Die nicht geringen Kosten hatte die städtische Verwaltung zu tragen.

Als nicht ausreichend müssen auch die Bestimmungen über Ausstellung der sogenannten (Trinker-) Säuferliste bezeichnet werden.

Nach der Oberpräisidial-Verordnung vom 7. Febr. 1903 hängt in den Wirtschaften ein Plakat mit den Namen der als Trunkenbold erklärten Personen nicht aus. Aber selbst wenn das aushinge, würde es in großen Städten wenig oder garnierst nützen, denn in den meisten Fällen kennt der Wirt die Personen nicht, oder schützt wenigstens Unkenntnis vor, ohne das ihm das Gegenteil zu beweisen ist.

Meines Erachtens müssen derartige, dem Trunke ergebene Individuen, die ihre Familie der Gefahr der Verarmung aussetzen und auch eine Gefahr für die Allgemeinheit bilden, photographiert und das Bild den Wirten behändigt werden dürfen. Ich bin der Ansucht, dass die Gefahr des Photographierenwerdens manchen von seinem Laster abbringe würde.

Ich fasse meine Erfahrungen und Ansichten damit zusammen, dass ich sage:

  1. Der Kampf gegen den Missbrauch geistiger Getränke ist auch in großen Städten möglich, wenn er auch mit Schwierigkeiten verbunden ist.
  2. Erfolge sind nur dann zu erzielen, wenn alle Polizeiverwaltungen gleichmäßig nach einem System vorgehen und sich gegenseitig die Trunkenbolde – wie dieses bereits jetzt z. B. bei den Polizeiaufsichtlern u. f. f. geschieht – zur Weiterarbeit überweisen.
  3. Es Muss für die Trinkerlöste übereinstimmend der öffentliche Aushang vorgeschrieben werden.
  4. Die Trunkenbolde müssen photographiert, und ein Bild derselben muß den Wirten zugänglich gemacht werden
  5. Die Verabfolgung geistiger Getränke auf Borg und insbesondere das Aushändigen der Getränke an Kinder ist gesetzlich allgemein zu untersagen.
  6. Die Namen derjenigen Wirte, die dieselhalb bestraft werden, sind in regelmäßigen Zwischenräumen öffentlich bekannt zu geben, und es muß gegen diese Wirte bei Wiederholungsfällen und nach nutzlos ergangener Verwarnung rücksichtslos die Konzessionsentziehung herbeigeführt werden.
  7. Zur Vollendung des Tatbestandes des § 361 R.Str.G.B. müsste die Feststellung der durch Trunk oder Spiel herbeigeführten Unfähigkeit zur Ernährung usw. der Angehörigen und die Einbringung eines Antrages der Vernachlässigung auf Gewährung einer Armenunterstützung genügen, nicht aber der bereits tatsächlich erfolgte Bezug einer solchen Unterstützung verlangt werden.

von Sillig, Polizei-Inspektor, Polizei Harburg 1905